Gastbeitrag von Nadine Rüstow, Ergotherapeutin, Rehabilitationspädagogin und Übersetzerin für Leichte Sprache

Als Therapeutin und Pädagogin habe ich mit vielen Menschen gearbeitet, die mit einer Behinderung leben. Diese Menschen habe ich über mehrere Jahre in grossen Einrichtungen in Deutschland begleitet. Ich war es gewohnt, in festen Strukturen zu denken. Die Eingliederungshilfe gab das Ziel vor. Ich hatte gelernt, dem behinderten Menschen mit Befunden und Diagnosen zu begegnen und seine Entwicklung in Berichten vorauszudenken. Ich entschied über das Leben der Betroffenen, ohne das System zu hinterfragen.

Was mich heute erstaunt, ist die geringe Rolle, die das Thema Barrierefreiheit damals in meinem beruflichen Alltag spielte. Dies änderte sich plötzlich, als ich ein Praktikum bei People First machte. Diese Organisation setzt sich in Selbstvertretung für Barrierefreiheit und Mitbestimmung ein. Hier traten die Themen Barrierefreiheit, Inklusion und Empowerment in meinem Berufsalltag zum ersten Mal in den Vordergrund.

Umdenken statt Schubladendenken

Anfänglich fühlte ich mich unprofessionell, schliesslich war ich immer die kompetente Betreuerin, Pädagogin und Therapeutin gewesen. Eine gewählte Ausdrucksweise gehörte zu meinem Berufsbild. Bei People First musste ich umdenken. Ich trat in die Rolle einer sensiblen Beobachterin. Ich lernte, weniger in Schubladen zu denken. Ich sah mich vermehrt als Unterstützerin, die an einem barrierearmen Umfeld mitwirkt.

Sprache überdenken

All dies veränderte auch meine Sprache. Ich lernte, weniger kompliziert zu schreiben und zu sprechen. Denn ich erkannte, dass in einem barrierearmen Dialog Behinderungen zurücktreten, ja fast gänzlich verschwinden. Ich muss zugeben, dass es nicht leicht war, in Leichter Sprache zu schreiben. Ich dachte über viele Wörter nach, die ich beruflich ganz selbstverständlich nutzte. Plötzlich wusste ich, dass ich meine Sprache überdenken musste!

Systemerhaltende Behindertenhilfe

Ich fing an, meine Erfahrungen zu reflektieren, die ich in Einrichtungen der Behindertenhilfe gesammelt hatte. Ich erkannte, dass diese Einrichtungen Inklusion, Barrierefreiheit und Empowerment nur unzulänglich lebten – und falls ja, dann eher zum Vorteil der Institution statt der Betroffenen.

Aus systemerhaltender und struktureller Sicht ist die Aufrechterhaltung des jetzigen Hilfesystems nachvollziehbar.
Aber aus menschenrechtlicher Sicht und im Hinblick auf die Inklusionspflicht ist dies nicht hinnehmbar.

Das deutsche pädagogische Hilfesystem wirkt starr. Es ist bisher kaum an der Behindertenrechtskonvention der UNO (UN-BRK) orientiert. Organisationen der Selbstvertretung haben viel erreicht, um Menschen mit Behinderungen in ihrer Rolle als Akteure zu stärken. Organisationen der Selbstvertretung brauchen aber mehr Öffentlichkeit und mehr Möglichkeiten, um ausserhalb des Hilfesystems für die Menschenrechte einzustehen.

Fachleute sensibilisieren

Ein starres System behindert sich selbst. Inklusion und Barrierefreiheit muss deshalb auch andersherum ansetzen. Nebst gesetzlichen Bestimmungen braucht es auch Massnahmen und Beratung für die Fachleute, die in den Einrichtungen der Behindertenhilfe wirken. Denn Änderungen sind nur zu bewirken, wenn auch die Fachleute mitziehen. Sie sollen Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken!

Leider schliesst das deutsche Hilfesystem Profis, die sich für Barrierefreiheit stark machen, oftmals aus. Eine weitere Auffälligkeit ist das mangelnde Bewusstsein: Wieso gibt es in Unternehmen und Einrichtungen noch kaum Beauftragte für Barrierefreiheit? Es wird gebaut, geschrieben, gestaltet und organisiert. Aber Barrierefreiheit wird meistens erst gegen Ende noch rasch notdürftig abgehakt wie eine vergessene Hausaufgabe. Dabei könnten die Ressourcen und Kompetenzen gebündelt werden, wenn die Barrierefreiheit von Anfang an auf der Projektplanung stünde: Einfache Sprache, kontrastreiche Webseiten, bessere Wegbeschreibungen, klar definierte Zielgruppen für Veranstaltungen… Kleine Dinge, die Grosses bewirken!

Die richtigen Experten finden

Die Haltung von Menschen, die selbst barrierearm leben, ist ein zentraler Aspekt. Denn wer barrierearm lebt, weiss gar nicht, welche Barrieren die Betroffenen daran hindern, Zugang zu erhalten und mitzuwirken. Ihm oder ihr fehlt die Expertise, die nur Betroffene haben. Es ist deshalb wichtig, die Betroffenen – also Menschen mit einer Behinderung – stärker einzubinden. Menschen mit einer Behinderung sollen als Expertinnen und Experten in inklusiven Projekten mitwirken. Gemeinsam mit uns Fachleuten. Denn eins scheint offensichtlich:

Den Weg in ein barrierearmes Deutschland müssen wir gemeinsam gehen.

Leichte Sprache befähigt

Die Sicht der betroffenen Expertinnen und Experten hat mich dazu bewogen, meine eigene Arbeit zu hinterfragen und meine Sprache umzudenken. Denn Sprache schenkt ein Gefühl von Zugehörigkeit. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass Leichte Sprache ein geeignetes Mittel darstellt, um die Zugänglichkeit zu stärken.

Denn Sprache schenkt ein Gefühl von Zugehörigkeit.

 

Text und Foto: Nadine Rüstow

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